Interventionen 2016 - Keynote von Sinthujan Varatharajah "Self-organisation – what’s up with that?"
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Selbstorganisation – what’s up with that?
Erstmals danke an die Organisator*innen für das großartige Engagement und die vielen Stunden, Tage und Wochen an Arbeit, die dieses Event erst ermöglicht haben. In Zeiten der Willkommenskultur, in der jede Person gedachte Shareholder*in im anti-rassistischen Handeln sein kann, indem man nicht mehr tut als Kleider zu spenden oder ahlan wa sahlan Schilder an deutschen Bahnhöfen hochzuhalten, ist es erfrischend, eine Konferenz zu haben, die sich kritisch und nicht-weiß orientiert. Ich möchte mich auch dafür bedanken, hier eingeladen zu sein die Keynote zu liefern, vor allem bei Bahareh Sharifi für ihren wundervollen Support.
Der Titel meines Vortrags lautet: Selbstorganisation – what’s up with that? So really: what is up with that?
Von M.I.A., einer tamilischen Geflüchteten, möchte ich gerne zu einer Anekdoten aus meinem eigenen Leben überleiten:
Eines Nachmittags in den frühen 90ern kam ein Anruf aus Österreich in unserer neu bezogenen Sozialwohnung an. Einen Tag später fuhr Appa nach NRW, um meine mir damals unbekannte Cousine abzuholen. Sie war mit einer Gruppe von jungen Tamilinnen im Grenzgebiet von einem Schlepper zurückgelassen. Sie waren desorientiert, verzweifelt, hungrig, und unterkühlt. Sie aßen Schnee um nicht zu verdursten und wären fast, wie zahllose andere geflüchtete Tamil*innen auf der Flucht, ums Leben gekommen. Wir kannten die Bilder aus Akte XY Folgen, in denen die geschwollenen Körper von Tamil*innen in der Eger, an der Grenze zur damaligen Tschecheslovakei, gefunden wurden. Es hätte meine Cousine sein können, es hätte Amma sein können, es hätten ich sein können.
Appa organisierte einen neuen Schmuggler, eine weitere Tamil*in, der die jungen Frauen in Österreich abholte, bis nach NRW fuhr um dort umverteilt zu werden. Damals, fast ein Jahrzehnt nach dem Beginn des tamilischen Exodus aus Sri Lanka, hatten sich Strukturen gebildet, die die Flucht von heute mehr als einer Millionen Exil-Tamil*innen ermöglichten. Die meisten davon waren kriminalisierte, anti-staatliche Strukturen.
Als Appa meine Cousine in NRW abholte, machte er sich strafbar. Er wurde selbst zum Schmuggler einer papierlosen Person: meiner Cousine. Mein Vater selbst, sowie auch wir und die Mehrzahl an Tamil*innen in diesem Land waren damals nur geduldet. Doch sein prekärer Status, die konstante Befürchtung der Abschiebung, des Racial Profilings und Targetting von geflüchteten Tamil*innen durch sogenannte „Tamilen-Regulierungen“ hielt ihn, sowie zahllose andere nicht davon ab, sich gegen das Gesetz zu wenden, und sich für das Überleben unserer Familien zu entscheiden.
Das was mein Vater tat hatte für uns keinen anderen Namen als unsere Familien zu beschützen, uns in Sicherheit zu wägen, Widerstand gegen den Völkermord an Tamil*innen zu praktizieren, und indirekt auch Widerstand gegen globale Grenzpolitiken zu leisten. Es waren Strategien und Organisationskulturen, die viele Communities gezwungen waren zu erlernen, um das eigene Überleben im Angesicht von Unterdrückungen, Kriegen und Völkermorden zu gewährleisten. Wir hatten keine anderen Begrifflichkeiten, keine andere Sprache als die des Überlebens und die des Widerstands.
Heute, Jahrzehnte nachdem die ersten geflüchteten Menschen aus dem Globalen Süden in der Bundesrepublik ankamen, reden wir von Selbstorganisationen von geflüchteten Menschen und Migrant*innen. Doch was heißt selbstorganisiert wirklich und wo erkennen wir diese?
Als Selbstorganisation bezeichnen wir Organisationen, in der betroffenen Menschen Führungspositionen einnehmen und selbstbestimmt handeln und organisieren können. Selbstorganisierte Gruppen stehen oftmals abseits weißer Machtstrukturen, da die individuelle Marginalisierung sich auch strukturell fortsetzt. Die Selbstorganisation steht im direkten Spannungsverhältnis zur Fremdorganisation. Fremdorganisation beschreibt im hiesigen europäischen Kontext die mehrheitlich weißen sogenannten „Solidaritätsstrukturen“, in der sich nicht betroffene Menschen mit den Bedürfnissen von betroffenen Menschen beschäftigen, ohne deren Erfahrungen und Marginalisierungen teilen zu müssen bzw. ohne die Konsequenzen für deren politische Handlungen und Forderungen direkt tragen zu müssen.
Die Willkommenskultur ist zum Großteil, wenn nicht sogar vollständig, fremdorganisiert. Teil dieser Willkommenskultur sind die vielen Möglichkeit die sich für nicht-betroffene Menschen ergeben, Karrieren, Perspektiven und Ressourcen auf den Geschichten, Erfahrungen und Körpern von betroffenen Menschen aufzubauen. Sie handeln oft im Namen der Solidarität, der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung Anderer, stärken dabei jedoch gleichzeitig die ungleichen Machtverhältnisse, die oft auch Ursache für viele Formen der Displacements sind.
In aktivistischen und akademischen Kreisen ist der Begriff „selbstorganisiert“ mittlerweile normalisiert. Er ist verbunden mit Bildern vom O-Platz, von den Geflüchteten Karawanen und Märschen aus Bayern. Er ist gleichzeitig mit Organisationen assoziiert, die großartige Arbeit leisten indem sie solidarisch, zwischen Communities für die Rechte von geflüchteten Menschen tätig sind.
Doch müssen wir uns gleichzeitig auch mit der Neuartigkeit, gar Fremdartigkeit von Begriffen wie Selbstorganisation innerhalb von betroffenen Communities befassen. Wie und wo werden eben diese Begriffe verwendet, wen bewegen sie und für wen verbleiben sie Fremdwörter, gar Fremdeingriffe in deren Arbeit und Alltag? Gibt es ein Level der Abstraktion? Was ist der Unterschied zwischen selbstorganisierter Arbeit und Community Arbeit? Wo beginnt Selbstorganisation und wo endet sie? Und kann sie individuell sein, oder muss sie kollektiv sein?
Der Begriff „Selbstorganisation“ markiert schnell etwas, was eigentlich für viele der betroffenen Communities als natürlich galt. Wenn nicht wir für uns selbst organisieren, wer dann? „For refugees by refugees“ ist eine Devise, die nicht erst im Ankunftsland von Relevanz ist, die nicht erst seit Organisationen wie RISE oder The Voice im Vordergrund standen. Die Frage des politischen Handelns von geflüchteten Menschen ist eine Frage der Selbstbestimmung: wann, wo und wessen Handeln wird wahrgenommen und anerkannt? Und was davon ist politisch? Beziehungsweise wo wird Politik gelesen und wo wird sie übersehen?
Was heute als selbstorganisiert, als Aktivismus bezeichnet wird entspricht oft normativen, sichtbaren Formen von politischer Organisations- und Protestkulturen, die sich in westlichen Protestverhalten und Institutionen spiegeln. Es privilegiert bestimmte Arten des politischen Handelns, wogegen andere marginalisiert und unsichtbar werden. Selbstorganisation ist essentiell, notwendig und Widerstand gegen die Dominanz von mehrheitsgesellschaftlichen Strukturen. Diese sind intersektionell und verschieben sich je nach Kontext. Doch wir tun uns selbst keinen Gefallen, indem wir den politischen Handlungsraum von geflüchteten Menschen auf sichtbare Auseinandersetzungen mit Dominanzstrukturen reduzieren.
Wir müssen uns konstant daran erinnern, dass jede geflüchtete Person selbstorganisiert ist, dass unsere Erfahrungen und Entscheidungen politisch sind: es beginnt mit dem Akt des Fliehens, der politisch ist und dem Akt des Überlebens, der genauso politisch ist. Diese werden individuell und kollektiv organisiert, setzen sich über Grenzen, Kontinente, Sprach-, Zeitbarrieren und Aufenthaltstitel hinfort. Der politischen Handlungsrahmen und Aktivismus muss kritischer und diverser reflektiert werden, um Politik dort zu lesen, wo sie oftmals nie vermutet wird.
Die Besetzung des O-Platz war zwar ein wichtiger Moment und eine kritische Besetzung eines öffentlichen Raumes im Zentrum der deutschen Hauptstadt, doch ist es nur eine von vielen Besetzungen im Nachkriegsdeutschland. Es ist die Besetzung, die von einigen Mehrheitsstrukturen gesehen wurde, von der Mehrzahl natürlich noch weiter ignoriert wird, aber dennoch, aufgrund der limitierten Aufmerksamkeit auch eine gewisse aktivistische und diskursive Anerkennung erlangt hat. Es gibt jedoch verschiedenen Arten der Besetzungen von öffentlichen Räumen, die nicht gesehen werden, die nicht als politisch gelesen werden.
Unsere Körper sind mobile Besetzungs- und Grenzzonen, die nationalstaatliche Strukturen, Territorien, Ideologien und Identitäten hinterfragen. Unsere Präsenz alleine ist eine Form des Widerstandes, die unter vielen Ressentiments und Gewalt hervorrufen, ob im Ankunftsland order dem Point of Departure, die uns dazu zwingen, uns selbst zu organisieren, um unser Existenzrecht wahrzunehmen, um uns selbst zu schützen.
So ist der Alltag von geflüchteten Menschen geprägt von politischen Entscheidungen und kritischer Hinterfragung, die nicht im Zentrum der Debatten sind. Dies betrifft fast alle Altersgruppen, selbst Kinder die im Rahmen ihres Status handeln müssen und oft für ihre Eltern Entscheidungen treffen müssen, die im sogenannten Normalfall, nur den Eltern zustehen würden. Viele von uns, die damals Kinder im Asylsystem waren, waren intim mit dem Kampf für ein Bleiberecht und Kampf für das gemeinsame Überleben verbunden. Unser Alltag war geprägt von Kämpfen, die wir oft heute selbst nicht mehr als solche anerkennen, da uns die mehrheitsgesellschaftliche Anerkennung fehlt. Nur wenige von uns hielten Plakate hoch, standen vor europäischen Institutionen oder unterschrieben Petitionen. Nichtsdestotrotz handelten wir schon immer politisch und setzten uns in unserem Alltag für eine Humanisierung unserer Körper und der Anerkennung unserer Fluchtgründe ein.
Die Politik, für die wir uns interessieren sollten, ist die Politik, die schnell als banal verschrieben wird, obgleich sie essentiell für das Überleben von geflüchteten Menschen ist: diese drückt sich in ihrer Alltäglichkeit aus und lebt oft abseits, manchmal parallel zu den Räumen der Mehrheitsgesellschaft. Ob es nun darum geht Lager räumlich neuzuordnen, einen Putz-, Koch oder Einkaufsplans zu erstellen, Schlafplätze neu einzuteilen, eine informelle Krippe für Kinder zu organisieren, oder eine Autofahrt zu*r Kinderärzt*in zu planen dies alles sind politische Handlungen, die in der Regel nicht als solche anerkennt werden und nicht im Zentrum der Debatte stehen.
Die Dehumanisierung von geflüchteten Menschen drückt sich auf allen Ebenen aus. Entsprechend drückt sich auch der Widerstand von geflüchteten Menschen in allen Ebenen aus. Er nimmt verschiedene Formen an und kann gar den Forderungen anderer geflüchteter Menschen und Migrant*innen widersprechen. Wir sind weder eine homogene Gruppe, noch sind unsere Erfahrung immer die gleichen. Es kann eine Frage des Bundeslands sein, eine Frage von Race, Kaste, Klasse, Gender, Sexual Identity, Ablelism etc. sein. Doch unser Kampf für die Anerkennung unseres Bleiberechts schweißt uns oft zusammen, genauso wie uns die Lagerpolitik Deutschlands räumlich dazu zwingt, uns gegenseitig zu begegnen.
Wir, die Kinder von damals, die heute Staatsbürger*innen dieser Republik sind, stehen noch immer außerhalb des Diskurses. Heute haben wir eine Sprache erlangt, in der wir hier gehört werden können, in der wir unsere Geschichten selbst erzählen könnten. Doch möchte man uns noch immer nicht sprechen lassen oder disqualifiziert uns indem man uns als veraltet, unauthentisch oder privilegiert betitelt. Auch wenn ich phänotypisch nicht dem Bild entspreche, das heute, im Jahre 2016 mit geflüchteten Menschen von der Mehrheitsgesellschaft verbunden wird, so sind unsere Biographien, Erfahrungen, Wissen und Traumata nicht temporär, noch abhängig von unserem Status, oder dem diskursiven Fokus.
Das Stigma der Flucht, das Stigma der Armut, der Camp Experience der konstanten Demütigung und Entmenschlichung führt dazu, dass viele von uns, Menschen von damals, uns unserer eigenen Biographien entfernen, um unser Überleben zu gewährleisten. MIA, mit deren Video mein Vortrag eingeleitet wurde, war für mich als Tamil Refugee kritisch um meine Biographie, meine Erfahrung aufzuarbeiten und letztendlich artikulieren zu können. Sie, genau wie auch ich, sind selbstorganisiert, arbeiten individuell sowie kollektiv, um unsere Communities zu ermächtigen die Räume für uns einzunehmen, die uns nie zugestanden wurden. Wir arbeiten von innen nach außen, von außen noch innen – in verschiedenen Ländern, mit verschiedenen Methoden. Doch was wir, und alle anderen Menschen mit Flucht und Asylerfahrungen tun, um uns selbst zu ermächtigen, um das Schweigen zu brechen, um die Selbstgespräche, die uns ausklammern zu verhindern, sind wichtig, für uns als Individuen und Kollektive, um uns selbst zu finden, um uns selbst zu stärken und unsere Rechte einzufordern.
Die Selbstorganisation ist mehr als nur das sichtbare, mehr als nur das westlich anerkannte, mehr als nur das temporäre. Sie lebt in unserem Alltag, in ihrer Banalität, in ihrer alltäglichen Signifikanz, in ihrer alltäglichen Irrelevanz und in ihren Widerständen.
Bevor ich zu einem Abschluss komme, möchte ich meinen Eltern danke, die heute anwesend sind. Heute, an ihrem 35. Hochzeitstag, sind wir nun mehr als drei Jahrzehnte im Exil. Die Jahre, die sie in ihrer Heimat verbracht haben, sind nun kürzer, als die, die sie im Exil verbracht haben. Meine Eltern sind ein Beispiel dafür, dass wir Menschen mit Fluchtbiographien schon seit Jahrzehnten in diesem Land leben, ohne dass unsere Erfahrungen anerkannt wurden, noch konsultiert werden, um Lösungen für heutige Probleme zu finden. Doch wir sind hier, in diesen Räumlichkeiten, und anderswo in diesem Land, selbst fern der urbanen Konglomeraten, fern des Fokus der Medien und der Mehrheitsgesellschaft. Und wir werden auch noch weiter existieren, nachdem sich die Willkommenskultur als nicht nachhaltig herausgestellt hat, nachdem, wie schon zuvor, kein Interesse mehr für uns bestehen wird.
Denn wir sind uns dessen bewusst, dass wir das Unbehagen aller Nationalstaaten sind; dass wir der Albtraum aller Grenzen - ob sozial oder politisch - sind.
Vielen Dank.
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